Forschung

Biopolitik und Risiko

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts etablierte sich in Europa die Idee der Gestaltbarkeit von Gesellschaft und damit auch der Planbarkeit von Zukunft. Schadensereignisse wurden nicht länger als Naturgewalt oder Schicksalsmacht angesehen, sondern fortan als Risiken verstanden, die durch Handlungsentscheidungen beeinflusst und gesteuert werden können. Insbesondere die sich neu etablierende Wissenschaft Soziologie versprach, in der Form der Sozialstatistik aus den Durchschnittswerten der Gesamtbevölkerung abgeleitete Differenzierungen und Sortierungen zur Verfügung zu stellen, die die Berechenbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen und Risiken ermöglichen sollte. Mit Hilfe von systematischer Datenerhebung, Ursachenforschung und Prognostik wurde ein Arrangement von Präventionsstrategien aufgebaut, das dabei helfen sollte, Risiken gesellschaftlich zu regulieren. Dem sozialen „Vorsorgestaat“ (Ewald 1993) gelang es durch die Etablierung von rechtlichen und institutionellen Sicherungssystemen in der Form von Sozial-Versicherungen zu einem bislang unbekannten Ausmaß, seine Bevölkerung als ökonomische und militärische Ressource effizient und nachhaltig zu sichern.
Seither wird das, was es durch Prävention zu verhindern gilt, in Abhängigkeit von gesellschaftlichem Wissen und Aufmerksamkeiten bestimmt, die Themen und Gegenstände von Prävention variieren konjunkturell und es werden immer neue Risikolagen und Sicherheitsbedürfnisse entdeckt und erfunden. Demgegenüber bleibt das Funktionsprinzip von Prävention stetig, nämlich der Modus, alle unter Verdacht zu stellen und Indizien aufzuspüren, die auf künftige Übel hindeuten und an denen die vorbeugenden Maßnahmen ansetzen können. So unterschiedliche Dinge wie überschrittene Grenzwerte, sogenanntes Risikoverhalten, eine genetische Mutation, ein als belastend typisiertes Sozialmilieu oder schlicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe werden zu Kriterien gemacht, nach denen Personen in den Aktionsradius präventiver Maßnahmen geraten oder außerhalb verbleiben dürfen.
Das Verschwimmen der Grenze zwischen krank- und gesundmachenden Handlungen ist mit einer Vermehrung von Gesundheitsrisiken verbunden, die Adipositas, Burn-Out oder Legasthenie zu alltagsnahen Möglichkeiten werden lassen. Anstelle des einst klaren Gegensatzes zwischen gesund und krank entsteht ein Kontinuum von schwacher bis starker Risikoexposition, der nun auch diejenigen ausgesetzt sind, die noch gar keine Krankheitssymptome aufweisen.
Das Regime der Selbst-Beobachtung und der freiwilligen Selbstkontrolle, der Kompetenz- und Ressourcenorientierung und dem Appellieren an die Einsicht und Selbstverantwortung der Individuen ist ein charakteristisches Merkmal moderner Biopolitik, die als ein Instrument staatlicher Vorsorgestrategien eine Fülle von pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen und Angeboten hervor gebracht hat, um Individuen zur Verantwortung im Umgang mit sich selbst und ihrer Gesundheit anzuhalten.